Jugend in der Pandemie (Teil 5) – Thesen und Forderungen

In den vorherigen Beiträgen dieser Serie haben wir zunächst die jungen Menschen selbst zu Wort kommen lassen, um darzustellen, wie sie die Zeit der Pandemie erleben. Es folgte eine Betrachtung durch Fachleute der Kinder- und Jugendhilfe und ein konkreter Blick in den Alltag von stationären Einrichtungen. Im vierten Teil ging es um das „Aufholpaket" der Bundesregierung und einige Kritikpunkte die diesbezüglich formuliert wurden.
In diesem Beitrag geht es um 5 Thesen, die die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter im Oktober 2020 formuliert haben und jeweils mit einer Forderung verbunden sind. Hier lesen Sie den kompletten, ungekürzten Wortlauf:
Thesen:
Unsere Thesen beruhen auf der Auswertung aktueller Untersuchungen und auf einer diese Woche durchgeführten Umfrage bei allen Jugendämtern in Deutschland zu ihrer Einschätzung der Situation von Kindern und Jugendlichen in Corona-Zeiten. Diese Umfrage hat exemplarisch gezeigt, wie nah die Jugendämter ihr Ohr an den jungen Menschen und ihren Bedürfnissen haben. Sie benennen die Probleme und beschreiben Perspektiven. Ihre Expertise sollte bei allen weiteren pandemiebezogenen Planungen einbezogen werden, damit ihre professionellen Einschätzungen berücksichtigt werden können und die Interessen der jungen Menschen Gehör finden.
1. Die Auswirkungen und Folgen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche sind bei allen künftigen politischen Entscheidungen zu berücksichtigen!
Die Auswirkungen der Coronakrise auf Kinder und junge Menschen verdienen mehr Aufmerksamkeit. Kinder und Jugendliche erleben in der Krise eine andere Wirklichkeit als Erwachsene und sind von Krisenauswirkungen wesentlich stärker betroffen.
Die aktuelle Debatte über die notwendigen Maßnahmen wird nahezu vollständig aus der Perspektive von Erwachsenen geführt. Die Entscheidungen, die bundesweit zur Schließung der Kindertagesstätten und Schulen geführt haben, waren ausschließlich virologisch bestimmt. Ebenso wie deren Öffnung, die wesentlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf diente. Die Auswirkungen der Schließung der Kitas auf die betroffenen Kinder fanden trotz ihrer großen Bedeutung für den Alltag und das Befinden der jungen Menschen kaum Berücksichtigung bei der Entscheidungsfindung.
Die Beschränkung auf die Erwachsenenperspektive hat für Kinder und Jugendliche Konsequenzen. Im Vergleich zur Erwachsenenwelt hat aufgrund unterschiedlicher Zeiterfahrungen ein Jahr ein weit stärkeres Gewicht im Hinblick auf die soziale, quali- fikatorische, körperliche und persönliche Entwicklung.
Für Jugendliche stellt die Gleichaltrigengruppe (Peer Group) neben der Familie und den öffentlichen Bildungsinstitutionen (Kindertagesstätte, Schule und Jugendhilfe) eine zentrale Bedingung für ein gelingendes Aufwachsen dar. Durch die Einschrän- kung der Kontakte führt die Pandemie zu einer Behinderung jugendspezifischer Lebensstile und strukturierender Geschehnisse, die in der Jugendphase eigentlich selbstverständlich sind. Die mit den Kontakten einhergehenden Erfahrungen lassen sich weder durch digitale Alternativangebote auffangen noch irgendwann nachholen.
Und es geht weiter: Wenn die neuesten Corona-Verordnungen die Gruppengröße bei privaten oder öffentlichen Treffen weiter beschränkt, hat dies für junge Menschen gravierende Auswirkungen. Ein Zusammensein in der für sie elementaren Peer-Group bis hin zu sportlichen Aktivitäten – alles Fehlanzeige.
Genau diese Einschätzung wird von den Jugendämtern geteilt. Die aktuelle Umfrage der BAG Landesjugendämter unter den 590 bundesdeutschen Jugendämtern bestätigt, dass Kinder und Jugendliche auf die aktuelle Krise mit Isolation und sozialem Rückzug reagieren, dass Bildungsnachteile besonders gravierend wirken, dass die psychosoziale Entwicklung erschwert bzw. behindert wird, dass der innerfamiliäre Druck steigt und dass Kindeswohlgefährdungen wahrscheinlicher werden.
Deshalb benötigen Kinder und Jugendliche besonders jetzt mehr verlässliche An- sprechpartner*innen innerhalb und außerhalb der Familien, mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wertschätzung, mehr Perspektiven und Hoffnung, mehr Corona-konforme Angebote durch die Kinder- und Jugendhilfe und vor allem ihre Freunde und ihre sozialen Kontakte.
Forderung:
Bei allen zukünftigen Entscheidungen zur Pandemieeindämmung, die immer eine Ab- wägung zwischen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten darstellen, sind die Auswirkungen und Folgen für Kinder und Jugendliche zu reflektieren und gleichberechtigt mit in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
2. Die systemrelevanten Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe erhalten und weiterentwickeln! Nie waren sie so wertvoll wie heute.
Die Kinder- und Jugendhilfe ist mit über 800.000 Beschäftigten und über 56 Mrd. EUR eine tragende Säule unseres Sozialstaates. Wenn Infrastrukturen wegfallen, wird ihre Bedeutung für den Alltag besonders spürbar. Die Auswirkungen durch die Schließung von Kitas und Schulen sowie von Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit – und damit auch der schulischen Ganztagsangebote – auf die Entwicklungs- und Teilhabechancen junger Menschen zeigt, welche wichtigen Funktionen im Alltag diesen Institutionen für ein gerechtes und gesundes Aufwachsen sowie für das Familienleben zukommt und welchen hohen gesellschaftlichen Stellenwert das Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung besitzt.
Defizite, die durch fehlende Betreuung, Erziehung und Bildung entstehen, lassen sich nur schwer kompensieren. Gerade Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien droht durch Corona die Gefahr, "abgehängt" zu werden. So tragen z.B. Kitas zur Gesundheit und zum Wohlbefinden von Kindern bei. Sie sichern eine geregelte Tagesstruktur, regelmäßige Ernährung und abwechslungsreiche Bewegungsmöglichkeiten. Gerade deshalb sind sie für viele benachteiligte Kinder eine wesentliche Voraussetzung für ein gelingendes Aufwachsen.
Die Leistungsfähigkeit der Kinder- und Jugendhilfe bei der Krisenbewältigung wurde besonders bei den Jugendämtern und im Feld der Hilfen zur Erziehung deutlich.
Die Jugendämter waren in der ganzen Krisenzeit immer offen und blieben Ansprechpartner für Familien, Träger und andere Institutionen. Sie sorgten weiterhin für die Begleitung von Familien, sie kümmerten sich um den Kinderschutz und kamen allen Aufgaben zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familientrotz erschwerter Rahmenbedingungen nach. Sie organisierten gemeinsam mit den Trägern die Notbe- treuung in den Kitas und entwickelten Ferienprogramme und Freizeitangebote für die jungen Menschen, die in diesem Jahr kaum Reisemöglichkeiten hatten. Sie verlegten dabei die Kommunikation bei Bedarf ins Freie oder führten Tür- und Angelgespräche. Wenn die Situation es erforderte, führten sie aber auch weiterhin Hausbesuche durch.
In den Beratungsstellen und bei den ambulanten Hilfen wurde in der Regel ebenfalls durchgehend weitergearbeitet. Es änderten sich nur die Formen der Arbeit, ähnlich wie bei den Jugendämtern.
Auch die stationären Einrichtungen kannten keine Pause. Während die von der Schließung der Kitas betroffenen Kinder wieder von ihren Eltern betreut wurden, war eine solche Rückkehr für Kinder und Jugendliche, die in den stationären Einrichtungen der Jugendhilfe leben, ausgeschlossen. Gerade in Krisen werden Konzepte, Arbeitsweisen und Alltagsroutinen auf ihre Tragfähigkeit, ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Innovationskraft hinterfragt. Die Fachkräfte mussten z. B. Alternativen für die Vormittage entwickeln, schulische Unterstützungsangebote bereithalten und das ganze Wochenende für die Freizeitgestaltung sorgen, weil die Kinder nicht nachhause entlassen werden konnten.
Die Jugendämter und die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe haben ihre Systemrelevanz für das Aufwachsen der Kinder- und Jugendlichen eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Besonders prägnant war in der bereits oben zitierten Umfrage folgende Antwort aus einem Jugendamt: „Die Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe befinden sich seit März 2020 im Krisenmodus mit einem kurzen Aufatmen im Sommer. Ich habe teil- weise das Gefühl, dass viele sich dieser Situation nicht bewusst sind. Wir hatten nie geschlossen!" Eine andere Antwort lautete kurz: „Das Jugendamt hat ganz normal weiter gearbeitet mit sehr vielen Unklarheiten und Fragen."
Forderung:
Die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sind systemrelevant und für das zukunftsfähige Funktionieren dieser Gesellschaft unverzichtbar. Die bisherigen Sicherungsmaßnahmen des Bundes, des Landes und der Kommunen zur Aufrechterhaltung der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe müssen auch bei längerem Andauern der Krise aufrechterhalten werden.
3. Die Digitalisierung – Königsweg aus der Krise?
Krisen befördern Umwälzungen, Brüche und Veränderungen. Zweifelsohne trägt die gegenwärtige Krise mit ihren Einschränkungen der unmittelbaren persönlichen Begegnung und Kommunikation dazu bei, diese durch andere technische Möglichkeiten zu ersetzen. Stichwort: Digitalisierung.
Dabei zeigt sich jetzt, wie tief die digitale "Spaltung" der Gesellschaft reicht. Gerade den besonders förderwürdigen Gruppen sozial benachteiligter junger Menschen fehlt es oftmals an den digital leistungsfähigen Anschlüssen sowie Endgeräten.
Auch ist es ein Trugschluss, dass die personalen, unmittelbaren Beziehungen, die das Prinzip der sozialpädagogischen Betreuung sind, gänzlich durch digitale Formate ersetzt werden können.
Kern der Kinder- und Jugendhilfe ist die personale Beziehungsarbeit. Ohne eine tragfähige Beziehung zwischen Sozialarbeiter*innen und den Kindern und Jugendlichen ist eine Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe nicht möglich. Professionelle Arbeitsbeziehungen bilden insofern die Grundlage und Voraussetzung für eine zentrale Handlungsmethode in der sozialen Arbeit.
In der bereits zitierten Umfrage geben die Jugendämter überwiegend an, dass ihnen sowohl die technische Ausstattung fehlt, um in Krisenzeiten den digitalen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern aufnehmen zu können, als auch das methodische Handwerkszeug.
Wir leben bereits in einer digitalisierten Welt. Die Systemrelevanz ist in Corona-Zeiten aber besonders deutlich geworden. Die Notwendigkeit eines raschen Ausbaus digitaler Infrastruktur als unabdingbare Notwendigkeit zur Bewältigung der Krise ist als eine Konsequenz unbestritten.
Allerdings befindet sich die Digitalisierung vieler Familien und die der Kinder- und Jugendhilfe noch teilweise in ihren Anfängen, so dass eine große Diskrepanz zwischen den digitalen Lebenswelten der Jugendlichen und der fehlenden Anschlussmöglichkeit der freien und öffentlichen Träger der Jugendhilfe offensichtlich geworden ist.
Forderung:
Neben der Finanzierung und Beschaffung von fehlender Technik geht es vor allem um das Erarbeiten von Methoden für einen sinnvollen, praktikablen und zugleich datenschutzkonformen Umgang mit den neuen Kommunikationsformen. Mitarbeitende aller Altersstufen müssen dabei mitgenommen werden. Es braucht zeitliche und finanzielle Ressourcen sowie einen trägerübergreifenden Abstimmungsprozess. Darüber hinaus bedarf es der Offenheit der jeweiligen IT-Abteilungen bzw. –Dienstleister für die Anforderungen der Kinder- und Jugendhilfe. Außerdem muss die digitale Kommunikation als Daueraufgabe begriffen werden.
4. Übergänge von der Schule in den Beruf absichern!
Ein gelungener Übergang von der Schule in den Beruf ist als Bedingung für gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft unerlässlich.
Platzierten noch in der Shell-Studie von 2019, also weit vor der Pandemie, die Jugendlichen die Frage, wovor sie in der Zukunft Angst haben, die Jugendarbeitslosigkeit auf einen hinteren Platz der Rangliste, so ist heute, bedingt durch die Pandemie, die Jugendarbeitslosigkeit ein zentrales Thema. Angesichts eines wirtschaftlichen Abschwungs verzeichnet die Bundesanstalt für Arbeit einen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit zwischen März und August 2020 um 53% auf rund 325.000 Betroffene.
Bei der Betrachtung dieser problematischen Entwicklung verdienen sozial benachteiligte Jugendliche besondere Beachtung. "Nicht ausbildungsfähige" Jugendliche werden zunehmend zu den eigentlichen Verlierern der Krise.
Forderung:
Um zu verhindern, dass Jugendliche vom Ausbildungs- und Arbeitsmarkt abgekoppelt werden, sind die arbeits- und ausbildungsmarktpolitischen Programme des SGB II und des SGB III zu aktivieren. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang der § 13 (Jugendsozialarbeit) des SGB VIII, der die betroffenen Zielgruppen besonders benachteiligter Jugendlicher mit den bewährten Maßnahmen der Jugendhilfe in den Mittelpunkt rückt.
5. Jugendliche wollen gehört werden.
Verschiedene Studien belegen eine zunehmende Entfremdung der Jugend vom offiziellen Politikbetrieb. Als ein Lösungsvorschlag wird die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an den sie betreffenden Angelegenheiten gefordert.
Kinder und Jugendliche sind sehr gut in der Lage, sich im Diskurs um die besten Lösungen mit ihren eigenen Vorstellungen einzubringen und sie zu begründen. Allerdings wurden, wohl auch wegen des hohen Zeitdrucks der zu treffenden Entscheidungen, bewährte Beteiligungsformate ausgesetzt, z. B. Jugendparlamente, Sprecher*innenräte und Schüler*innenvertretungen.
Die Unsicherheiten und Zukunftssorgen der jungen Menschen, ihre Einschränkungen im sozialen Bereich und die massiven Änderungen im Bildungsbereich, denen sie mit großer Flexibilität begegnen mussten, fanden in ihren Augen wenig Beachtung. In den sie betreffenden Entscheidungsprozessen waren sie nicht teilnehmende Subjekte, sondern Objekte der Entscheidungsfindungen.
Diese Tendenz ist nun umzukehren, um die Stimme von jungen Menschen in den politischen Diskurs der Krisenbewältigung einfließen zu lassen.
Forderung:
Bestehende Beteiligungsformate, die auf der Agenda nach hinten gerutscht sind, sind zu reaktivieren und auszubauen. In die politische Diskussion um den richtigen Weg der Pandemiebekämpfung sind Kinder und Jugendlichen mit einzubeziehen. Gerade sie sind über digitale Kommunikation eher gut erreichbar.
Fazit:
Die Coronakrise hat und wird in allen gesellschaftlichen Bereichen nachhaltige Schäden hervorrufen.
Im Zuge der Krisenbewältigung und der Kompensation der Krisenschäden muss der Situation von Kindern und Jugendlichen verstärkt Rechnung getragen werden. Um die Nach- teile für die junge Generation abzufedern, bedarf es eines Nachteilsausgleichs in Bezug auf Kindheit, Jugend und das junge Erwachsenenalter. Dies schließt eine Teilhabe der jungen Generation an den Corona-bedingten Entscheidungen ebenso mit ein, wie eine Berücksichtigung von deren speziellen Bedarfen und Bedürfnissen, die ein gesundes Auf- wachsen garantieren. Dies schließt aber auch eine größere und schnellere Anstrengung zur technischen Ausstattung benachteiligter Kinder und Jugendlicher mit ein und ein aktives Gegensteuern gegen eine möglicherweise neue drohende Jugendarbeitslosigkeit.
Teil dieses Nachteilsausgleichs ist aber auch ein finanzielles Unterstützungsprogramm, das die zuständigen Institutionen stärkt. Der Blick muss sich richten auf die unverzichtbare Arbeit der Jugendämter als sozialpädagogische Fachbehörde sowie der freien Träger und ihrer Angebote, die gemeinsam das Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen begleiten und damit das Leben der Familien vor Ort maßgeblich mitgestalten. Das System der Kinder- und Jugendhilfe muss in seiner Funktionalität und Wirksamkeit gestärkt und nachhaltig weiterentwickelt werden.
Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam dafür einstehen, dass den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe ausreichende Mittel für die qualifizierte Unterstützung der Familien und der jungen Generation zur Verfügung stehen. Jugendämter sind gemeinsam mit ihren Partnern der Kinderschutzgarant, sie sind Familienunterstützer und Ansprechpartner für Kinder, Jugendliche und deren Familien.
Quelle: http://www.bagljae.de/
Im folgenden Blog Artikel werden wir die Forderungen aus dem offenen Brief „Junge Zukunft trotz(t) Corona – Chancenpaket für junge Menschen" vorstellen.